Festansprache

Michael_MuellerFestansprache von Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands anlässlich der Feier zum 100-jährigen Bestehen der NaturFreunde in Wiesbaden:
Zunächst einmal gratuliere ich ganz herzlich im Namen des gesamten Bundesverbandes zum 100jährigen Jubiläum der NaturFreunde in Wiesbaden und wünsche Euch alles Gute und viele erfolgreiche Aktivitäten in der Zukunft!

Als vor 100 Jahren die NaturFreunde eine Gründungswelle neuer Gruppen in Deutschland erlebten, war die Verknüpfung des Umweltgedankens mit dem sozialen Anliegen neu, ja geradezu revolutionär. Die Arbeiterbewegung war angetreten, das soziale Anliegen dem Kapitalismus aufzuzwingen, der es nicht aus sich selbst hervorzubringen imstande war. Das wesentliche Instrument dazu war der nationale Sozialstaat, der nach vielen Auseinandersetzungen mühsam akzeptiert wurde und dann (nicht ohne gelegentliche Rückschritte) schrittweise ausgebaut wurde. Sozialversicherung, Rentenversicherung, Verbot der Kinderarbeit, Tarifhoheit der Gewerkschaften, gesetzlicher Mindesturlaub, 8-Stundentag - das waren die Debatten der Epoche und vieles konnte erst nach dem ersten Weltkrieg mit Millionen Toten und den anschließenden sozialen Revolutionen in vielen Ländern erreicht werden.

Ich komme zu Euch von dem auf die Initiative der NaturFreunde zustande gekommenen „Transformationskongress“ in Berlin, dem ersten seiner Art. Arbeit, Gerechtigkeit und Ökologie standen im Mittelpunkt der intensiven Diskussionen, bei denen erstmals die Gewerkschaften, die Umweltschutzorganisationen und die evangelischen Kirchen gemeinsam einen Kongress getragen haben. Es ging uns um die Zukunft von Arbeit und Demokratie, die Neuordnung der Wirtschaft, Verteilungsfragen und die Transformation der Gesellschaft in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung - deshalb der Titel des Kongresses.

Wenn so verschiedene Organisationen zusammen einen Kongress veranstalten, kommen alle von ihren eigenen Blickwinkeln, die Kirche von der ethischen Fragestellung für eine universale Verantwortung, die Gewerkschaften von der sozialen Frage und der Beschäftigung sowie die Umweltorganisationen von der Nachhaltigkeit und dem Schutz der Natur. Dennoch fanden wir drei wichtige Gemeinsamkeiten:

1. Die Zukunft der Gesellschaft darf nicht dem Finanzsektor, den Banken überlassen werden; das würde die totale Ökonomisierung bedeuten, die ein Irrweg ist.
2. Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln muss überwunden werden. Es bedarf der Orientierung von oberflächlichem Wissen hin zum Verstehen der Zusammenhänge. Oberflächliches Wissen meint die reine Faktensammlung, das Nebeneinanderstellen von immer mehr Daten, die aber noch lange keine Erklärungen bieten können, manchmal sogar mehr verunsichern denn dass sie erhellen. Zahllose Internet-Recherchen ersetzen das sortierende, orientierende Verstehen von Leitideen nicht. Das ist ein Widerspruch unserer Zeit: Wir wissen immer mehr, verstehen aber immer weniger.
3. Um die Orientierung auf Personen und Ereignisse zu überwinden, bedarf es der Orientierung auf Zusammenhänge. Die Bundesliga-Schlusskonferenz im Radio am Samstag ist immer in Gefahr, Fußballspielen auf Tore zu reduzieren, aber eigentlich kommt es auf das Spiel, seinen Verlauf und seine Spannung an. So ist das auch in der medialen Realität: Gestern Klimawandel, dann EHEC, heute Griechenlandkrise und morgen was auch immer Neues. Die Zusammenhänge gehen verloren. Die Realität wird zur Dominanz zufälliger Ereignisse.
Bezogen auf die Frage der Transformation der Gesellschaft in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung bedeutete das in den Debatten des Kongresses, dass

1. wir am Ende einer Epoche von Linearität und klassischem Wachstum stehen, die vor allem seit dem 19. Jahrhundert mit Fortschritt gleichgesetzt wurde, und
2. wir uns nicht in einer Krise befinden, die wie ein reinigendes Gewitter wirkt und danach machen wir weiter so wie vorher. Tatsächlich erleben wir einen Epochenbruch, ganz so, wie Erich Kästner es beschrieben hat: Es geht auf keinen Fall so weiter, wenn es so weiter geht.
Dazu einige Stichworte:

in 30 Jahren werden auf der Welt vermutliche zehnmal (!) mehr Menschen leben wie zu Beginn der Industrialisierung, dieser Sprung von Quantität verändert die Qualität der menschlichen Inanspruchnahme des Planeten
die IEA (Internationale Energieagentur) sieht den maximalen Punkt der Ölförderung bereits überschritten, nämlich im Jahr 2006, d.h. die Epoche fossiler Energieproduktion neigt sich ihrem Ende zu, wodurch die Zukunft zu einem Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe, auch der Ressourcenkriege werden kann, denn Öl ist eine zentrale Grundlage des fossilen Kapitalismus
die eisfreien Landflächen sind heute in etwa zu 47% genutzt oder überbaut; in der Wissenschaft setzt man bei 50% üblicherweise den Umschlagpunkt zum Verlust wesentlicher Lebensräume und Arten an, d.h. die Inanspruchnahme kann nur um den Preis großer Zerstörung weitergehen
der ökologische Fußabdruck Deutschlands ist heute 14mal so groß wie die Fläche Deutschlands, d.h. unser Lebensstil verbraucht die Ressourcen 14mal mehr als die Regenerationsfähigkeit der Fläche unseres Landes hergibt
bei einer Trendfortschreibung wird der CO2 Ausstoß in 20 Jahren so weit gestiegen sein, dass die Grenze von 2% Temperaturerhöhung durch Klimagase „gerissen“ sein wird; und selbst diese Grenze führt in vielen Stellen der Welt wie Bangladesh oder dem südlichen Afrika oder in Peru zum Verlust großer Lebensräume für Millionen Menschen und vergrößert an anderen Stellen die Wüsten in grandiosem Umfang wie im nördlichen Afrika
in allen Gesellschaften nehmen die sozialen Ungleichheiten zu. Prof. Wilkinson hat das auf dem Transformationskongress eindrucksvoll nachgewiesen.
Wenn diese Stichworte in etwa die Situation beschreiben, ist eine andere Gesellschaft notwendig, eine Transformation unserer Gesellschaft in einem tiefgreifenden und nicht oberflächlichem Prozess zu einer nachhaltigen Entwicklung. Ein wichtiges Argument kann dabei helfen. Mehr klassisches Wachstum bedeutet wegen der Zerstörungskräfte, die diesem Wachstum innewohnen, eben nicht mehr automatisch mehr Wohlfahrt. Ungleiche Vermögensverhältnisse spielen dabei eine wichtige Rolle und drehen dieses Wachstum noch schneller in die zerstörerische Richtung.

Die Umweltkammer der evangelischen Kirche versucht mit dem Nationalen Wohlfahrtsindex die Wohlfahrt, die Lebensqualität in Deutschland, zu erfassen. Sie kommt seit 2005 im Saldo, im Ergebnis, zu einem Rückgang. Dem nach wie vor (bis auf das Krisenjahr 2009) vorhandenem Wachstum stehen Einbußen an der Lebensqualität gegenüber, die insgesamt die Lebensbedingungen der Gesamtbevölkerung schlechter werden lassen. Das muss nicht so bleiben, erfordert aber eben eine Transformation der Gesellschaft zu mehr Gerechtigkeit und mehr sozialem Ausgleich - ein altes Thema der Naturfreunde.

Wir stehen also an einer Zeitenwende. Der US- Präsident Roosevelt, der den New Deal durchsetzte als wegweisende Antwort auf die Weltwirtschaftskrise 1929, sprach einmal von einem Rendezvous mit der Geschichte. Wir wissen, dass in Deutschland seinerzeit das Rendezvous mit der Geschichte zu einer extrem destruktiven und nationalistischen Reaktion geführt hat, während es in den USA damals möglich war, eine extrem konstruktive Antwort zu finden. Wir müssen uns jedenfalls diesem Rendezvous der Geschichte stellen und wir können die Transformation in eine nachhaltige Entwicklung erreichen.

Ein Beispiel dafür ist die Debatte um die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung. Wir haben gesehen, dass wir in einer Zeitenwende sind. Wir können stolz darauf sein, dass die NaturFreunde auf der richtigen Seite gestritten haben und weiter auf ihr kämpfen. Aber wir sehen auch, dass diese große Transformation kein Selbstläufer wird, der nach einer einmaligen Entscheidung selbsttätig zu laufen anfängt. Nein, im Gegenteil wird es immer wieder zu neuen einzelnen Entscheidungen kommen, die dann in die richtige Richtung weisen werden

wenn sie nicht dem Diktat des Finanzsektors unterworfen sind, sondern sich an der Vernunft messen. Geld muss dienen, darf nicht herrschen.
wenn sie sich an der Leitidee orientieren und sich nicht in Partikularfakten und -interessen verlaufen und
wenn sie im Gesamt-Zusammenhang gesehen werden, und damit nicht zukünftige Entwicklungen blockieren, sondern Türen aufstoßen.
Berg frei!